Die Nacht der Erzähler – Rede zum Deutschen Drehbuchpreis 2018

„Wir werden heute den Nachweis führen, dass man ganz viele Autorinnen und Autoren einladen – und trotzdem eine wunderbare Preisverleihung feiern kann! Herzlich willkommen beim Deutschen Drehbuchpreis 2018! Dies ist der Abend der Erzähler – es geht uns um Wertschätzung, mehr noch aber um Erkenntnis, was Autoren leisten und dass die Voraussetzung jedes guten Films ein gutes Drehbuch ist. Hier nominiert zu sein, bedeutet schon ein Maximum an Wertschätzung. Und weil auch ich ein Erzähler bin, erzähle ich Ihnen jetzt mal, wer hier heute Abend am Start ist: Visar Morina mit „Exil“ - er hat es glücklicherweise hierher geschafft. Torsten Schulz mit der Adaption seines eigenen Romans „Nilowsky“ - ihm wird man wenigstens nicht vorwerfen können, er hätte die Vorlage nicht verstanden. Schließlich Thomas Wendrichs Drehbuch mit dem schönen Titel „Je suis Karl“ - Sie merken schon, wir können Ihnen heute Abend ein gewisses Niveau nicht ersparen.

Ich begrüße Sie auf dem Hauptstadtflughafen der Gedanken – mein Name ist Sebastian Andrae, und ich muss als Moderator heute Abend ausnahmsweise für meine eigenen Pointen geradestehen - das tun sonst wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler für mich.

Liebe Frau Staatsministerin, wir sind so froh, Sie heute hier zu haben – hätte ja auch ins Auge gehen können, und ein Typ von der FDP hätte uns heute Abend erzählt, dass Film eh viel zu teuer ist. Es war übrigens okay, dass Sie sich Zeit gelassen haben bei den Koalitionsverhandlungen. Wir leben in einer Stadt, die manchmal den Eindruck macht, dass sie gar nicht regiert wird – geht auch! Immerhin: ein Applaus auch für die Aufstockung des Medienboard-Etats durch die Filmstadt Berlin! Sie, liebe Frau Ministerin, sind vorangegangen mit einer großartigen Erhöhung der kulturellen Filmförderung durch Ihr Haus. Eigentlich müsste man Ihnen auch das Gesundheitsministerium zuschlagen; Sie haben vielen Filmschaffenden eine Depressionstherapie erspart, und auch heute Abend sehen Sie zu Recht in strahlende Gesichter.

Ich habe die Irritation mitgekriegt nach meinem FDP-Witz – Sender und Botschaft müssen übereinstimmen, alte Comedy-Regel. Ist mir jetzt auch aufgefallen: ich bin so ähnlich angezogen wie Christian Lindner, aber ich bleibe bis zum Schluss – versprochen! Der eine oder andere hat es vielleicht mitgekriegt: Die Branche hat sich in den letzten Wochen überraschend intensiv mit der bisher eher obskuren Berufsgruppe der Drehbuchautoren beschäftigt. Ein Beruf, der von Rechts wegen im Schatten zu stehen schien, jäh ins gleißende Rampenlicht gerückt – wie konnte das passieren?

Die Entsorgung von Drehbuchautorinnen und -autoren aus Programmheften, Premieren, die Nicht-Nennung in Film-Kritiken und teilweise sogar im Nachspann ist in eine Krise geraten. Es läuft nicht mehr rund. Die alten Begründungen ziehen nicht mehr so recht: „Es war kein Platz im Programmheft“ (stattdessen aber für sämtliche Laiendarsteller des indonesischen Familiendramas, die alle denselben Nachnamen haben). „Sorry, ich hab Dich einfach vergessen bei der Dankesrede“ (nicht aber die Redakteurin, mit der dieser Regisseur den nächsten Film machen will!). „Du, das wär aber auch ganz schön weit zur Premiere mit dem Flixbus.“

Bitte! Das wirkt einfach abgestanden! Viele befürchten auch, dass Autoren auf Filmpartys einfach keinen Smalltalk hinkriegen, und ja, wir sind oft zu tiefgründig, aber es geht! Man kann Partytalk und Anspruch verbinden, wie Groucho Marx mit seiner legendären Eröffnung: „Ich vergesse nie ein Gesicht – aber in Ihrem Fall würde ich gern eine Ausnahme machen.“ - so viel Direktheit hält nicht jeder aus. Hektisch sucht die Branche nach NEUEN Argumenten, um Autoren nicht einladen zu müssen. Eine Task Force autorenkritischer Regisseure, Festival-Chefs und Redakteure haben dafür jetzt einen Writer's Room eingerichtet – um festzustellen, dass sie nicht wissen, was man darin eigentlich macht. Sie hätten mich fragen sollen. Gute Autoren liefern auf Wunsch auch die eloquentesten Begründungen für die eigene Abschaffung.
Einzige Bedingung: Ich werde NICHT namentlich genannt. Hier kommen meine TOP TEN der neuen Begründungen für Ignoranz gegenüber Autoren –

10. Autoren haben doch so viel Fantasie – Sie können sich Ihren Namen dazu denken!
9. Autoren stehen am Anfang – am Ende stehen sie bloß im Weg.
8.Drehbücher sind doch nur Vorlagen – es hängt sich ja auch keiner die Bauanleitung neben das IKEA-Regal, wenn es fertig ist.
7. Den Nachspann liest eh keiner. Das Drehbuch haben wir übrigens auch nicht gelesen.
6. Wir haben viele nicht im Nachspann genannt. Meine Oma auch nicht, und ohne die wäre ich nicht da, wo ich heute bin – im Nachspann.
5. Die Russen haben unseren Nachspann gehackt.
4. Also, unsere neue Drehbuch-Software hat bei den Änderungen nicht gemeckert …!
3. Schreiben können trägt doch die Belohnung in sich selbst – was für ein toller Beruf! Ist doch ein Beruf, oder?
2. Es gibt eine alte geometrische Begründung für den TATORT-Nachspann – schon Euklid wies nach, dass mindestens ein Viertel eines blauen Quadrats frei bleiben muss.
1. Autoren schaffen Welten, wissen wir – aber diese haben sie nun mal nicht erschaffen!

Apropos Welten erschaffen – ich will hier keine unangemessenen Vergleiche anstellen, aber als GOTT die Zehn Gebote diktiert hat … ich meine, ich war nicht dabei, ich kenne die Szene nur aus Bibel-Filmen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Moses eine große Diskussion angefangen hat – mit dem Schöpfer! „Hat schon viel Schönes, aber müssen es zehn Gebote sein? Reichen nicht acht? Ich würde gern mehr über Bilder erzählen.“

Nein! Er wusste halt noch, mit wem er zu tun hatte: Mit dem Typen, der sich ALLES AUSGEDACHT hat!
„Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib – ja, okay, Du hast gut reden, aber hast Du Rachel mal aus der Nähe gesehen?“ - „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir – sorry, Herr, aber wenn Du ausfällst, brauchen wir zumindest ein Stand-In.“ - „Du sollst nicht töten – versteh ich, Jahwe, aber wir müssen im dritten Akt die Spannung halten. Ich hab mal eine REGIEFASSUNG angefertigt ...“

- so war es nicht! Moses hat das Skript an sich genommen, sich an den Abstieg gemacht und seinem Team die ganze Sache erklärt. Und sie hat bis heute gehalten!

Mitsprache ist etwas Schönes (also, nicht in meiner Familie, aber rein theoretisch) – aber sie sollte immer auf Gegenseitigkeit beruhen. Liebe Regisseure, was soll denn passieren, wenn Autoren beim Casting dabei sind? Die meisten von uns sind schlank, sie passen gut mit auf die Couch. Und was ist das Schlimmste, was bei Leseproben passieren kann, wenn Autoren anwesend sind? Dass sie darauf achten, dass alle lesen können?? Mitsprache! Gut für beide Seiten! Aber davon sind wir noch weit entfernt. Bisher verstehen die meisten Autoren unter „Rohschnittabnahme“, dass sie sich die Wurstreste vom Catering mit nach Hause nehmen dürfen …

wir brauchen mehr gemeinsames Verständnis für das Entstehen eines Films aus der Keimzelle Drehbuch, und wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass am Drehbuch und damit an den Autoren die Existenz der ganzen Branche hängt! Und daher ehren wir heute Abend genau das: Gute Drehbücher. Gute Autoren. Trommelwirbel! Wer keine Trommel dabei hat, klopft sich auf die Schenkel, aber bitte die eigenen – DIE Debatte wollen wir heute Abend nicht auch noch befeuern!

Unsere Auseinandersetzung über Wertschätzung der Autorinnen und Autoren wurde ja überlagert von einer anderen weltweiten Diskussion: Übergriffe auf Frauen in der Filmbranche. Ist es so falsch zu vermuten, dass die gleichen Machtstrukturen der Egomanie und den Stereotypen Vorschub leisten, unter denen wir alle leiden?
Diese Machtstrukturen schützen immer die Falschen, und sie machen Filme niemals besser. Ich habe mich dabei an den klassischen Vampirfilm erinnert gefühlt. Auch dessen Hauptfiguren hilft das Dunkel: Uralte Untote, die ihre Jacketkronen in die Hälse wehrloser schöner Frauen schlagen, ihre Männlichkeit mit Gewalt erhalten müssen, die ihre Substanz aus dem Leben anderer beziehen.

Schreiber und Frauen, wenn nicht ohnehin in Personalunion als Autorinnen, haben eins gemeinsam, dass sie meistens keine Macht haben, dass sie der Macht misstrauen, dass sie lernen müssen, mit der Macht umzugehen, dass sie Machtstrukturen verstehen müssen, um nicht schutzlos zu sein. Und lassen Sie es mich klar aussprechen: Kein „Schattenmann“ ist es wert, dass man eine Frau im Schatten ihrer zerstörten Existenz überlässt.

Auch die Hochburgen unseres Fernsehens erschienen mir in dieser Affäre plötzlich wie düstere Festungen, in denen die Wahrheit gefangen gehalten wurde - im Vampirfilm hilft es, die Sonne aufgehen zu lassen, um den Spuk zu vertreiben.
Werden wir hellhörig! Lassen wir das Tageslicht herein! Autoren sind immer für die Freiheit eingetreten. Und wer heute noch davon redet, Film sei Krieg und Diktatur am Set eine Notwendigkeit, wer mir also erzählen will, Krieg und Diktatur müsse es geben – der hat mir auch sonst nichts zu erzählen.

Und ich kann es nicht mehr hören oder lesen von einigen meiner Geschlechtsgenossen, in social media: wie man denn jetzt umgehen solle mit Frauen; man kenne sich ja gar nicht mehr aus! Clark Gable hingegossen in den Armen von Vivien Leigh … das Bond-Girl rettet 007 und bei der „Bourne Identity“ stellt sich heraus, dass Matt Damon doch eine Frau ist – wer um die Reinheit der Geschlechterrollen fürchtet, der sei beruhigt:

Die meisten Frauen gehen ganz gern durch Türen, die man ihnen aufhält – sie stehen einfach zu oft vor verschlossenen.

Und ein Tipp, mit Frauen geht man so um, wie man möchte, dass andere mit der eigenen Tochter umgehen, der eigenen Schwester, der eigenen Mutter. Und wenn Sie zu Ihren Töchtern, Ihren Schwestern UND Ihrer Mutter ein mieses Verhältnis haben – dann behandeln Sie Frauen einfach so, wie Sie selbst gern behandelt werden wollen. #kategorischerimperativ. Ich habe Sie gewarnt: Ein gewisses Niveau wird heute Abend nicht unterschritten -

dies ist die Nacht der Erzähler. Seien Sie unsere Gäste! Keine Angst, wir tragen keine Knoblauchketten um den Hals, wir glauben, das sei wirklich Schmuck. Und wir treiben niemandem einen Pflock durchs Herz. Das erledigen unsere Geschichten. Träumen wir gemeinsam weiter, dass es besser werden kann, oder wie Walt Disney, der größte Realist unter den Träumern, es ausgedrückt hat:

„There is no reason NOT to wish upon a star ...“

Shakespeare pitcht

„Nehmen Sie Platz. Geht das mit Ihrer, äh, Strumpfhose ...? Also, wir suchen noch was für den Mittwochabend, Herr Shake, ähm ... kann ruhig ´ne etwas düstere Färbung haben jetzt ...“

„Düster? Wohlan! 's ist Nacht, und Nebelgrau umfängt die Sinne ... aus dunkler Zeit taucht Schottland nun empor ... der Than von Cawdor greift nach Königswürden, mit rücksichtsloser Faust ...“

„Bitte wer?“

„Der Than von Cawdor. Macbeth sein Name ...“

„Mac ist gut. So eine Art Schlossherr, nehme ich an, Herr Spears? Der wär’ gut für den Sonntagabend ...“

„... am Tag des Herrn trieft vom Blute noch sein Schwert, der Unschuld’gen, die er gemeuchelt ...“

„So düster nun auch wieder nicht! Mord ist bei uns ja am Freitag. Und Montag bis Donnerstag ... und Samstag ... und Sonntag spät ... aber wir suchen durchaus auch mal was ohne Todesfolge, haben Sie vielleicht was Leichteres ...?“

„Was Leichtes? Irrwitz’ger Herzensreigen einer Sommernacht, ein Kobold treibt bös’ Schabernack mit den Verliebten ...“

„Liebe - schon mal super. Aber was genau meinen Sie mit irrwitzig? Unsere Zuschauer sollen sich schon wieder erkennen, Herr Shake ... Herr Spier ... sind das ganz normale Leute?“

„Keiner erkennt keinen. Durch Liebeszauber, Feenspruch verliebt die Elfenkönigin sich in den Esel ...“

„W-Was? Stop!“

„... der Feenkönig sich in einen Knaben ...“

„Halt! Nein!! Knabe? Esel? Soll das irgendwie so in eine sodomitische Richtung ...? Wir haben vormittags diese Tiersendungen, aber das muss alles immer schön sauber ...“

„Das ist der Lauf der Welt, ich schildere ihn nur. Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.“

„Kann sein. Aber nicht in unserem Programmschema.“

„Nun, alles geht gut aus, und in dem sanften Glanz der ersten Morgensonne umfangen sich die wahren Paare wieder.“

„Happy End. Schön. Brauchen wir. Sagten Sie nicht Schottland? Schottland ist gut. Sonntagabend! Lord Mac lebt auf seinem einsamen Anwesen an der schottischen Küste, er ist Witwer ...“

„Mitnichten – ist’s doch Macbeths Frau, die Königin, die ihn in hoffärt’gem Stolz zur Untat frevlerisch verlockt ...“

„Witwer. Sonntagabend. Punkt. Vorschlag: Lord Mac, einsam und verbittert, aber gut erhalten, überfährt mit dem Landrover fast eine Wandererin, die sich als seine verstoßene Tochter herausstellt ... sie arbeitet inzwischen als Fachärztin für Schleimbeutelentzündungen in der Großstadt, aber ihr Herz zieht sie immer wieder ins wilde, ungezähmte ... äh ...“ (zur Kollegin) „Bringst mir eine Latte laktosefrei mit? Ganz lieb!“ (wieder zum Autor) „Na? Da geht doch was. Vater – Tochter – ist doch ein Super-Setting!“

„Drei Töchter.“

„Dann eben drei. Sie sind der Kreative.“

„Der König altert, verfällt der geistigen Umnachtung ...“

„Alt ist okay. Geistig umnachtet ist nicht okay. Unsere Zuschauer, na, egal. Und es muss ja nicht gleich ein König sein, wir leben in einer Dings, Demokratie ... wie wär’s mit einem Grafen?“

„... betrogen von den Töchtern, irrt er im wüt’gen Sturm über die öde Heide, doch schlimmer ist der Sturm im Geist, und auf dem Weg liegt Wahnsinn ...“

„Wahnsinn! Hören Sie, Herr Schäker ... Schräger ... Schlenker ...“

„Shakespeare.“

„... wie auch immer: Wir machen hier Fernsehen! Wir haben hier doch was gemeinsam erarbeitet! Schottland! Vater! Tochter! Gebrauchen Sie mal ein bisschen Ihre Fantasie! Dafür haben wir doch Autoren!“

„Der Rest ist Schweigen.“ (erhebt sich)

„Wenn Sie jetzt bockig sein wollen. Ich will Ihnen was sagen, Herr Dings, Schleckbier: Drehbuchschreiben ist Zusammenarbeit. Sie haben ja ganz nette Ausgangsideen, aber was der Zuschauer will, entscheiden immer noch ...“

(Tür knallt)

„... wer hat dem eigentlich einen Termin gegeben?“

© Sebastian Andrae, 07. Juli 2017

(Bild: iofoto)

Zu viel Mord ist gar nicht gesund

„Wo waren Sie am Sonntag zwischen viertel nach acht und viertel vor zehn?“ Keine Sorge, das wird kein Verhör! Für einen großen Teil des Fernsehpublikums ist die typische Ermittlerfrage ja auch entspannt zu beantworten: „Da hab ich den TATORT gesehen.“

Die TV-Reihe mit der höchsten Zustimmungsrate – wenn man die Einschaltquote mal so interpretieren will, gemessen in ein paar tausend Haushalten in einer „Durchschnittsgemeinde“ in Rheinland-Pfalz – handelt von Gewaltverbrechen. Jemand wird vom Leben in den Tod befördert. Schnell wie ein Mündungsblitz oder quälend langsam, auf jeden Fall nicht zufällig, sondern mit Vorsatz, sonst macht die Ermittlung keinen Spaß.

Ups, jetzt ist es mir rausgerutscht – dürfen Gewaltkriminalität und ihre Aufklärung Spaß machen? Legen wir den Begriff mal sehr weit aus: unterhalten kann sie durchaus. Der Krimi ist der Deutschen liebstes Fernsehformat, mehr noch lieben es die Fernsehverantwortlichen. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Die Aufzählung aller aktuellen Krimisendungen würde den Rahmen sprengen. Während das ARD-Programm auf seinen gepanzerten Säulen, eben dem TATORT und dem ehemaligen DDR-Format „Polizeiruf 110“ ruht, bietet das ZDF Woche für Woche einen Kessel Blaulicht:

Helen Dorn und Bella Block, der Alte und der Staatsanwalt, Unter Verdacht oder Unter anderen Umständen, und Regionalkrimis von München Mord bis Friesland (wer mal da war, wundert sich, dass sich Mörder und Opfer auf dem menschenleeren Deich überhaupt über den Weg gelaufen sind – einfach Pech oder Glück für den Zuschauer?), dazu noch Düsteres aus Skandinavien und Heiter-Tödliches aus Großbritannien – sage und schreibe war das Zweite Deutsche Fernsehen im Jahr 2015 für 2061 Krimiausstrahlungen verantwortlich und damit für fast so viele Tote wie der Straßenverkehr. Allerdings sind die Morde aus Mainz selbstverständlich fiktiv – bis auf jene der ebenfalls erfolgreichen Reality-Tätersuche Aktenzeichen XY.

Zum Vergleich: Im Jahr 1958 strahlte die ARD – damals noch allein auf weiter Fernsehflur – gerade mal 4 Krimiserien aus. Gute alte Zeit? Tatsächlich ist die reale Verbrechensrate seitdem gesunken. Die Zahl der Verkehrstoten übrigens auch, und während wir uns an diesen keinesfalls weiden würden, lassen wir uns von jenen doch gerne unterhalten.

Man erklärt dies mit einem landestypischen Charakteristikum: Die Mördersuche und garantierte Überführung des Täters spräche den deutschen Ordnungssinn an. Mörder gefasst, alles im Lot, und am Montag geht’s wieder zur Arbeit? Andere belegen gerade den TATORT mit dem schönen Wort des „bundesdeutschen Lagerfeuers“: Das letzte Kollektiverlebnis des Fernsehens also, auf das die gebührenfinanzierten Sender, welche in Zeiten von Internet und „non-linearem“ TV-Konsum um ihre Legitimation kämpfen, keineswegs verzichten wollen.

Müssen sie auch nicht. Keiner denkt daran, das Lagerfeuer zu löschen, so lange es Licht ins Dunkel bringt – auch wenn manchem der starre Blick darauf so archaisch scheint wie der Reflex, bei einem Auffahrunfall zum Schaulustigen zu werden. Aber ist es falsch, darüber nachzudenken, warum in einer solchen Vielzahl von Programmen – und echten Schicksalen im wirklichen Leben – die Familienserie, die Komödie, die Romanze, alles, was uns zum Lachen, Weinen und Nachdenken bringt, gegenüber dem Krimi derart ins Hintertreffen geraten konnte?

Am fehlenden Wunsch der Zuschauer, das eigene Leben in fiktiven Geschichten gespiegelt zu sehen, liegt es jedenfalls nicht. Dieser Wunsch ist lebendig. Der Mensch hat ein Bedürfnis, sich durch das Erzählen über sich selbst klar zu werden, seit er in Felle gehüllt am echten Lagerfeuer saß – denn was sind z.B. Höhlenzeichnungen anders als ein prähistorischer Comic-Strip, ein frühes Storyboard, wie man beim Filmemachen die Vorwegnahme der Filmbilder in Zeichnungen nennt?

Vielmehr hat die Krimi-Flut im Fernsehen mit „Beherrschbarkeit“ zu tun: Programm-verantwortliche können aufgrund des klaren Schemas einer Mordermittlung frühzeitig in die Buchentwicklung eingreifen und, wenn gewünscht, umsteuern. Die Drei-Akt-Struktur im Krimi – Tat, Ermittlung, Auflösung – ist so stahlhart wie der Lauf einer Pistole. Sie ist überprüfbar. Und damit steuerbarer als das unerprobte Fantasie-Produkt eines Autors in anderen Genres, mit dem er die Zuschauer überraschen und begeistern möchte – was wie alles Neue stets ein Risiko ist. Und so versuchen die Sender, die sich aus Abgaben ihrer Zuschauer finanzieren, ihren Erfolg bei eben diesen Zuschauern zu planen. Notfalls mit der Wiederholung des bereits Erfolgreichen.

Wo also werden Sie zwischen 20 Uhr 15 und 21 Uhr 45 sein? Schauen Sie ruhig mal Menschen bei der Lösung ihrer Konflikte ohne Waffengewalt zu. Es lohnt sich. Für Zuschauer und Filmemacher.

Und am Ende auch für die Fernsehsender.

Gastkommentar für das "Stader Tageblatt" © Sebastian Andrae, 16. Januar 2017

King Kong in der Hosentasche

Ein Reiter erscheint am Horizont. Der Held, nach Durchquerung der Wüstenhölle am Ende seiner Kräfte und in Begleitung seines halb verdursteten Gefährten, starrt der langsam näherkommenden dunklen Gestalt entgegen – und mit ihm die Zuschauer. Kinominuten dehnen sich zu Ewigkeiten. Endlich erreicht der Beduine den Brunnen. Schüsse fallen. Einer der Frevler, der es gewagt hat, ohne Erlaubnis zu trinken, wird gerichtet. Der andere soll als „Lawrence of Arabia“ Filmgeschichte schreiben –

doch hätten wir Peter O’Toole und Omar Sharif in solch atemloser Spannung zugeschaut, wenn uns diese Konfrontation zum ersten Mal auf dem Handy-Bildschirm präsentiert worden wäre?

Der größte Komödiant aller Zeiten dreht seinen neuesten Film. Die Welt wartet auf das befreiende Gelächter, das niemand so zu entfesseln vermag wie der kleine Tramp in seinem heroischen Kampf gegen die Starken und Mächtigen. Doch obwohl sich der Tonfilm in diesem Jahr längst durchzusetzen beginnt, präsentiert Charlie Chaplin 1931 – einen Stummfilm. Allerdings ein Meisterwerk: Mit „City Lights“, der die Tonspur nur für Musik und akustische Gags nutzt, feiert das Genie der Pantomime noch einmal einen Triumph –

aber die Zeiten, da einzelne Filmkünstler sich dem Einsatz neuester Technologie verweigern durften, sind für immer vorbei.

Dreimal klettert der Gorilla-Gigant auf das Empire State Building: 1933, 1976 und 2005 hilft ihm dabei jedesmal verbesserte Tricktechnik. Ein viertes Mal kommt „Kong“ gar nicht aus dem Dschungel raus, darf aber dort 2017 dank CGI (Computer Generated Imagery) dreidimensionalen Schaden anrichten. Die Erzählweise der archaischen Story hat sich dabei nicht unbedingt adäquat weiterentwickelt.

Aber vielleicht ist das auch gar nicht mehr nötig: Amerikanische Urängste vom schwarzen Riesen, der die weiße Frau entführt, stoßen heutzutage auf weniger Interesse als weitgehend sinnfreie, aber perfekt „gemachte“ Zerstörungs-Orgien, die immerhin Analogien zum ebenfalls sinnfreien Vietnamkrieg bieten. Die härtesten Szenen sorgen im Kino für Gelächter: weniger Beweis für Teenager-Grausamkeit als für die abstumpfende Allverfügbarkeit filmischer Inhalte. Wo hört der Spielfilm auf, wo fängt der Ego-Shooter an? – in solchen Filmen soll man sich diese Frage gar nicht stellen.

Die Frage, ob iPad und Smartphone-Screen der Tod des großen Kinofilms sind, stellt sich ebenso wenig. Hollywood produziert teurer denn je – doch seine Inhalte werden (wie auch die der bescheideneren europäischen Filmindustrie) auf allen verfügbaren Kanälen gestreamt, auf allen möglichen Bildschirmen ausgestrahlt, rund um den Globus, rund um die Uhr.

Natürlich werden Kinofilme nicht fürs Handy geschrieben, special effects nicht für den PC gestaltet. Aber die Vielfachverwertung ist ein unverzichtbarer Baustein der Filmfinanzierung geworden – gleichzeitig die große alte Filmkunst gefährdend, weil der Kinobesuch durch perfekte Home-Entertainment-Anlagen und den „Zwischendurch-Thriller“ im ICE-Abteil Konkurrenz bekommen hat, und sie womöglich neu belebend. Denn Filmfreaks in aller Welt konnten sich noch nie so gut über das Sehenswerte austauschen wie über social media. Und nichts macht so sehr Appetit auf einen Film wie ein Trailer im Netz.

Die Herausforderung für Filmemacher in aller Welt – ob hierzulande unter dem Druck niedriger oder in den USA unter dem Druck hoher Budgets – besteht also darin, in diesem Kaleidoskop aus Lichtern und Stimmen weiterhin Aufmerksamkeit zu erregen, im Gespräch zu bleiben, Zeichen zu setzen. Geht das überhaupt noch? Mit welcher Aufmerksamkeitsspanne dürfen wir Autoren, Regisseure und Produzenten rechnen? Und wenn wir annehmen, dass sie deutlich geringer geworden ist, inwieweit darf sich das auf die Gestaltung unserer Inhalte auswirken?

Kino war immer auch Volksbelustigung, immer auch „Jahrmarkt“, aber jetzt drehen sich Karussells und Riesenräder ohne Unterbrechung, lockt die Geisterbahn schon um elf Uhr vormittags, und die Schießbude macht um vier Uhr nachts immer noch nicht zu. Eine amüsierwillige, aber auch stark überreizte Menge schiebt sich unaufhörlich durch die flackernden Lichter und knalligen Geräuscheffekte. Wo niemand stehenbleibt, steht bald nichts mehr: lasse ich also mein Licht heftiger flackern, lege noch ein paar Dezibel drauf?

Die Chance für europäische Filme liegt wohl eher im Gegenteil: im Leisen, Ungewöhnlichen, erzählerisch Innovativen. Nicht zuletzt im Wiedererkennbaren: dem Heimatgefühl, das Menschen in dieser lauter und schneller werdenden Welt stärker denn je umtreibt. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, formulierte feinsinnig der Dichter Hölderlin den Zusammenhang zwischen einer Bedrohung und ihrer Gegenkraft.

Und so wie Orpheus im Mythos das wütende Meer mit den Klängen der Lyra besänftigte, wird das Subtile als Ausgleich zum Schrillen immer seine Anhänger finden. Werden Bilder ihren Ausdruck suchen, die nicht dem Gedanken an den Markt entspringen. Und werden auch in Zukunft Filme hoffentlich so fesselnd gestaltet sein, dass der Zuschauer vielleicht das Handy nicht mehr ausschalten kann, um sie weiter zu verfolgen – aber gleichzeitig den kleinen Bildschirm verflucht, der ihm die feinsten Details vorenthält.

Und beim nächsten Mal doch wieder ins Kino geht ...

(Bild: Columbia Pictures)

Gastkommentar für das "Stader Tageblatt" © Sebastian Andrae, 23. März 2017

Sebastian Andrae