King Kong in der Hosentasche

Ein Reiter erscheint am Horizont. Der Held, nach Durchquerung der Wüstenhölle am Ende seiner Kräfte und in Begleitung seines halb verdursteten Gefährten, starrt der langsam näherkommenden dunklen Gestalt entgegen – und mit ihm die Zuschauer. Kinominuten dehnen sich zu Ewigkeiten. Endlich erreicht der Beduine den Brunnen. Schüsse fallen. Einer der Frevler, der es gewagt hat, ohne Erlaubnis zu trinken, wird gerichtet. Der andere soll als „Lawrence of Arabia“ Filmgeschichte schreiben –

doch hätten wir Peter O’Toole und Omar Sharif in solch atemloser Spannung zugeschaut, wenn uns diese Konfrontation zum ersten Mal auf dem Handy-Bildschirm präsentiert worden wäre?

Der größte Komödiant aller Zeiten dreht seinen neuesten Film. Die Welt wartet auf das befreiende Gelächter, das niemand so zu entfesseln vermag wie der kleine Tramp in seinem heroischen Kampf gegen die Starken und Mächtigen. Doch obwohl sich der Tonfilm in diesem Jahr längst durchzusetzen beginnt, präsentiert Charlie Chaplin 1931 – einen Stummfilm. Allerdings ein Meisterwerk: Mit „City Lights“, der die Tonspur nur für Musik und akustische Gags nutzt, feiert das Genie der Pantomime noch einmal einen Triumph –

aber die Zeiten, da einzelne Filmkünstler sich dem Einsatz neuester Technologie verweigern durften, sind für immer vorbei.

Dreimal klettert der Gorilla-Gigant auf das Empire State Building: 1933, 1976 und 2005 hilft ihm dabei jedesmal verbesserte Tricktechnik. Ein viertes Mal kommt „Kong“ gar nicht aus dem Dschungel raus, darf aber dort 2017 dank CGI (Computer Generated Imagery) dreidimensionalen Schaden anrichten. Die Erzählweise der archaischen Story hat sich dabei nicht unbedingt adäquat weiterentwickelt.

Aber vielleicht ist das auch gar nicht mehr nötig: Amerikanische Urängste vom schwarzen Riesen, der die weiße Frau entführt, stoßen heutzutage auf weniger Interesse als weitgehend sinnfreie, aber perfekt „gemachte“ Zerstörungs-Orgien, die immerhin Analogien zum ebenfalls sinnfreien Vietnamkrieg bieten. Die härtesten Szenen sorgen im Kino für Gelächter: weniger Beweis für Teenager-Grausamkeit als für die abstumpfende Allverfügbarkeit filmischer Inhalte. Wo hört der Spielfilm auf, wo fängt der Ego-Shooter an? – in solchen Filmen soll man sich diese Frage gar nicht stellen.

Die Frage, ob iPad und Smartphone-Screen der Tod des großen Kinofilms sind, stellt sich ebenso wenig. Hollywood produziert teurer denn je – doch seine Inhalte werden (wie auch die der bescheideneren europäischen Filmindustrie) auf allen verfügbaren Kanälen gestreamt, auf allen möglichen Bildschirmen ausgestrahlt, rund um den Globus, rund um die Uhr.

Natürlich werden Kinofilme nicht fürs Handy geschrieben, special effects nicht für den PC gestaltet. Aber die Vielfachverwertung ist ein unverzichtbarer Baustein der Filmfinanzierung geworden – gleichzeitig die große alte Filmkunst gefährdend, weil der Kinobesuch durch perfekte Home-Entertainment-Anlagen und den „Zwischendurch-Thriller“ im ICE-Abteil Konkurrenz bekommen hat, und sie womöglich neu belebend. Denn Filmfreaks in aller Welt konnten sich noch nie so gut über das Sehenswerte austauschen wie über social media. Und nichts macht so sehr Appetit auf einen Film wie ein Trailer im Netz.

Die Herausforderung für Filmemacher in aller Welt – ob hierzulande unter dem Druck niedriger oder in den USA unter dem Druck hoher Budgets – besteht also darin, in diesem Kaleidoskop aus Lichtern und Stimmen weiterhin Aufmerksamkeit zu erregen, im Gespräch zu bleiben, Zeichen zu setzen. Geht das überhaupt noch? Mit welcher Aufmerksamkeitsspanne dürfen wir Autoren, Regisseure und Produzenten rechnen? Und wenn wir annehmen, dass sie deutlich geringer geworden ist, inwieweit darf sich das auf die Gestaltung unserer Inhalte auswirken?

Kino war immer auch Volksbelustigung, immer auch „Jahrmarkt“, aber jetzt drehen sich Karussells und Riesenräder ohne Unterbrechung, lockt die Geisterbahn schon um elf Uhr vormittags, und die Schießbude macht um vier Uhr nachts immer noch nicht zu. Eine amüsierwillige, aber auch stark überreizte Menge schiebt sich unaufhörlich durch die flackernden Lichter und knalligen Geräuscheffekte. Wo niemand stehenbleibt, steht bald nichts mehr: lasse ich also mein Licht heftiger flackern, lege noch ein paar Dezibel drauf?

Die Chance für europäische Filme liegt wohl eher im Gegenteil: im Leisen, Ungewöhnlichen, erzählerisch Innovativen. Nicht zuletzt im Wiedererkennbaren: dem Heimatgefühl, das Menschen in dieser lauter und schneller werdenden Welt stärker denn je umtreibt. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, formulierte feinsinnig der Dichter Hölderlin den Zusammenhang zwischen einer Bedrohung und ihrer Gegenkraft.

Und so wie Orpheus im Mythos das wütende Meer mit den Klängen der Lyra besänftigte, wird das Subtile als Ausgleich zum Schrillen immer seine Anhänger finden. Werden Bilder ihren Ausdruck suchen, die nicht dem Gedanken an den Markt entspringen. Und werden auch in Zukunft Filme hoffentlich so fesselnd gestaltet sein, dass der Zuschauer vielleicht das Handy nicht mehr ausschalten kann, um sie weiter zu verfolgen – aber gleichzeitig den kleinen Bildschirm verflucht, der ihm die feinsten Details vorenthält.

Und beim nächsten Mal doch wieder ins Kino geht ...

(Bild: Columbia Pictures)

Gastkommentar für das "Stader Tageblatt" © Sebastian Andrae, 23. März 2017

Sebastian Andrae