Zu viel Mord ist gar nicht gesund

„Wo waren Sie am Sonntag zwischen viertel nach acht und viertel vor zehn?“ Keine Sorge, das wird kein Verhör! Für einen großen Teil des Fernsehpublikums ist die typische Ermittlerfrage ja auch entspannt zu beantworten: „Da hab ich den TATORT gesehen.“

Die TV-Reihe mit der höchsten Zustimmungsrate – wenn man die Einschaltquote mal so interpretieren will, gemessen in ein paar tausend Haushalten in einer „Durchschnittsgemeinde“ in Rheinland-Pfalz – handelt von Gewaltverbrechen. Jemand wird vom Leben in den Tod befördert. Schnell wie ein Mündungsblitz oder quälend langsam, auf jeden Fall nicht zufällig, sondern mit Vorsatz, sonst macht die Ermittlung keinen Spaß.

Ups, jetzt ist es mir rausgerutscht – dürfen Gewaltkriminalität und ihre Aufklärung Spaß machen? Legen wir den Begriff mal sehr weit aus: unterhalten kann sie durchaus. Der Krimi ist der Deutschen liebstes Fernsehformat, mehr noch lieben es die Fernsehverantwortlichen. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Die Aufzählung aller aktuellen Krimisendungen würde den Rahmen sprengen. Während das ARD-Programm auf seinen gepanzerten Säulen, eben dem TATORT und dem ehemaligen DDR-Format „Polizeiruf 110“ ruht, bietet das ZDF Woche für Woche einen Kessel Blaulicht:

Helen Dorn und Bella Block, der Alte und der Staatsanwalt, Unter Verdacht oder Unter anderen Umständen, und Regionalkrimis von München Mord bis Friesland (wer mal da war, wundert sich, dass sich Mörder und Opfer auf dem menschenleeren Deich überhaupt über den Weg gelaufen sind – einfach Pech oder Glück für den Zuschauer?), dazu noch Düsteres aus Skandinavien und Heiter-Tödliches aus Großbritannien – sage und schreibe war das Zweite Deutsche Fernsehen im Jahr 2015 für 2061 Krimiausstrahlungen verantwortlich und damit für fast so viele Tote wie der Straßenverkehr. Allerdings sind die Morde aus Mainz selbstverständlich fiktiv – bis auf jene der ebenfalls erfolgreichen Reality-Tätersuche Aktenzeichen XY.

Zum Vergleich: Im Jahr 1958 strahlte die ARD – damals noch allein auf weiter Fernsehflur – gerade mal 4 Krimiserien aus. Gute alte Zeit? Tatsächlich ist die reale Verbrechensrate seitdem gesunken. Die Zahl der Verkehrstoten übrigens auch, und während wir uns an diesen keinesfalls weiden würden, lassen wir uns von jenen doch gerne unterhalten.

Man erklärt dies mit einem landestypischen Charakteristikum: Die Mördersuche und garantierte Überführung des Täters spräche den deutschen Ordnungssinn an. Mörder gefasst, alles im Lot, und am Montag geht’s wieder zur Arbeit? Andere belegen gerade den TATORT mit dem schönen Wort des „bundesdeutschen Lagerfeuers“: Das letzte Kollektiverlebnis des Fernsehens also, auf das die gebührenfinanzierten Sender, welche in Zeiten von Internet und „non-linearem“ TV-Konsum um ihre Legitimation kämpfen, keineswegs verzichten wollen.

Müssen sie auch nicht. Keiner denkt daran, das Lagerfeuer zu löschen, so lange es Licht ins Dunkel bringt – auch wenn manchem der starre Blick darauf so archaisch scheint wie der Reflex, bei einem Auffahrunfall zum Schaulustigen zu werden. Aber ist es falsch, darüber nachzudenken, warum in einer solchen Vielzahl von Programmen – und echten Schicksalen im wirklichen Leben – die Familienserie, die Komödie, die Romanze, alles, was uns zum Lachen, Weinen und Nachdenken bringt, gegenüber dem Krimi derart ins Hintertreffen geraten konnte?

Am fehlenden Wunsch der Zuschauer, das eigene Leben in fiktiven Geschichten gespiegelt zu sehen, liegt es jedenfalls nicht. Dieser Wunsch ist lebendig. Der Mensch hat ein Bedürfnis, sich durch das Erzählen über sich selbst klar zu werden, seit er in Felle gehüllt am echten Lagerfeuer saß – denn was sind z.B. Höhlenzeichnungen anders als ein prähistorischer Comic-Strip, ein frühes Storyboard, wie man beim Filmemachen die Vorwegnahme der Filmbilder in Zeichnungen nennt?

Vielmehr hat die Krimi-Flut im Fernsehen mit „Beherrschbarkeit“ zu tun: Programm-verantwortliche können aufgrund des klaren Schemas einer Mordermittlung frühzeitig in die Buchentwicklung eingreifen und, wenn gewünscht, umsteuern. Die Drei-Akt-Struktur im Krimi – Tat, Ermittlung, Auflösung – ist so stahlhart wie der Lauf einer Pistole. Sie ist überprüfbar. Und damit steuerbarer als das unerprobte Fantasie-Produkt eines Autors in anderen Genres, mit dem er die Zuschauer überraschen und begeistern möchte – was wie alles Neue stets ein Risiko ist. Und so versuchen die Sender, die sich aus Abgaben ihrer Zuschauer finanzieren, ihren Erfolg bei eben diesen Zuschauern zu planen. Notfalls mit der Wiederholung des bereits Erfolgreichen.

Wo also werden Sie zwischen 20 Uhr 15 und 21 Uhr 45 sein? Schauen Sie ruhig mal Menschen bei der Lösung ihrer Konflikte ohne Waffengewalt zu. Es lohnt sich. Für Zuschauer und Filmemacher.

Und am Ende auch für die Fernsehsender.

Gastkommentar für das "Stader Tageblatt" © Sebastian Andrae, 16. Januar 2017

Sebastian Andrae